Schlafstörungen: Tückisches Wechselspiel
Schon die alten Griechen kannten das Problem. Wen Melancholie am Tag seelisch niederdrückte, der hatte nachts einen weiteren einsamen Kampf auszutragen: Ärzte wie Hippokrates berichteten, dass ihre Patienten große Schwierigkeiten hatten, in die Arme von Morpheus, dem griechischen Schlafgott, zu sinken. Auch eine Nacht durchzuschlafen, fiel ihnen schwer. Oder sie erwachten am Morgen viel zu früh.
Statt von Melancholie würden wir heute vermutlich eher von Depressionen reden, doch die Nähe zu Schlafstörungen ist über die Jahrtausende hinweg die gleiche geblieben. Forscher haben diesen Zusammenhang lange Zeit sehr einseitig interpretiert: Die Depression galt als der eigentliche Übeltäter und die Schlafstörung nur als ihre Begleiterscheinung. Dass derzeit ein Umdenken unter Forschern stattfindet, dazu hat auch Dieter Riemann vom Uniklinikum Freiburg beigetragen. "Traditionell hat man Schlafstörungen nur als eine Folge, als ein Symptom von psychischen Erkrankungen angesehen", sagt der Schlafforscher. Das sei die übliche psychiatrische Sicht gewesen. "Die hat sich in den letzten zehn Jahren etwas verändert." Heute gehe man davon aus, dass in beide Richtungen ein Zusammenhang besteht, nicht nur von den psychischen Störungen zu den Schlafstörungen, sondern auch umgekehrt.
Am besten ist das wohl bislang bei Depressionen untersucht. Dieter Riemann und seine Kollegen haben sich für eine Metaanalyse eine Reihe von Langzeituntersuchungen angeschaut, die teilweise über 20 Jahre liefen. Diese zeigten in der Summe: Menschen mit Schlafstörung hatten im Vergleich zu Menschen ohne Schlafproblem ein doppelt so hohes Risiko für Depressionen – und das teilweise Jahre nach dem ersten Auftreten der Schlafstörungen. "Die Schlafstörungen gehen also in vielen Fällen den Depressionen voraus", sagt Riemann. Außerdem hat die klinische Erfahrung eines deutlich werden lassen: Behandelt man eine Depression erfolgreich, kann sich die Schlafstörung weiterhin hartnäckig halten. Wäre sie nur ein Symptom, müsste sie eigentlich mit verschwinden. Umgekehrt mehren sich die ersten Hinweise, dass eine kognitive Verhaltenstherapie der Schlafstörung auch dabei hilft, die Depression in den Griff zu bekommen.
Bei einer ganzen Reihe von psychischen Störungen wie Depression kündigt sich die Erkrankung zunächst im Schlaf an. "Vielen Betroffenen fällt als Erstes auf, dass sie nicht mehr gut schlafen können", sagt Dieter Riemann. "Und bei Patienten, bei denen in der Familie ein oder beide Elternteile psychisch erkrankt sind, tauchen schon, noch während sie gesund sind, Veränderungen im EEG auf." Der REM-Schlaf, in dem sich die Augen schnell hin und her bewegen und in dem wir verstärkt träumen, ist bei depressiven Menschen vorverlagert. Er setzt früher ein – ein Hinweis darauf, dass das Botenstoffsystem im Gehirn, das die verschiedenen Schlafphasen steuert, aus der Balance geraten ist. Genaueres weiß man noch nicht. Aber einigen Untersuchungen zufolge sind bei den Betroffenen gemeinsam mit dem veränderten REM-Schlaf auch Teile des so genannten paralimbischen Systems überaktiv. Diese Hirnbereiche verarbeiten Gefühle, was wiederum das emotionale Ungleichgewicht bei depressiven Menschen widerspiegeln könnte, denen Ängste und Sorgen die Sicht auf die Welt verdüstern.
Gestörte Emotionsverarbeitung
Nach einer Theorie des amerikanischen Psychologen Matthew Walker von der University of California in Berkeley werden emotionale Informationen vor allem im REM-Schlaf verarbeitet und gespeichert. Unangenehme Gefühle verknüpfen sich dabei mit anderen Erfahrungen und Erinnerungen und verlieren dadurch gewissermaßen ihren negativen Charakter. "Bei der Schlafstörung ist der REM-Schlaf allerdings durch Mikroaufwachvorgänge zersplittert", sagt Dieter Riemann. "Das beeinflusst die emotionale Verarbeitung negativ." Und könnte erklären, warum jemand, der lange Zeit schlecht schläft, aber sonst ausgeglichen ist, nach Jahren depressiv wird. Und es könnte auch plausibel machen, wie Schlafstörungen die psychische Erkrankung mit aufrechterhalten helfen. Tatsächlich gehen diversen Untersuchungen zufolge Schlafstörungen und Schlafentzug mit negativen Gefühlen wie Wut und Traurigkeit einher.
Einen weiteren Mechanismus, der zwischen Schlafstörungen und psychischen Erkrankungen vermitteln könnte, vermutet der Freiburger Schlafforscher in einem Phänomen, das Wissenschaftler als "Hyperarousal" bezeichnen, zu Deutsch in etwa "Übererregtheit". Sowohl bei Schlafstörungen als auch bei fast allen psychischen Erkrankungen leiden die Betroffenen unter einer starken Anspannung. Die Herzfrequenz ist erhöht, und die Nebennierenrinde schüttet verstärkt das Stresshormon Cortisol aus. Das macht sich auch subjektiv bemerkbar: "Der depressive Mensch sorgt sich um die Zukunft", sagt Riemann, "der schizophrene Mensch mit einer Paranoia fühlt sich verfolgt und versucht sich wie in einem Hitchcock-Film zu verstecken; und ein Mensch mit einer Angststörung schreckt beim geringsten Anlass zusammen."
Beim Hyperarousal handelt sich um eine übertriebene Stressreaktion, die grundlos permanent anhält. Sie lässt die Betroffenen nicht mehr richtig schlafen. "Hyperarousal und die Schlafstörung erhöhen wiederum die Anfälligkeit für eine psychische Störung – vor allem wenn dann noch Stress von außen und eine genetische Veranlagung hinzukommen", erläutert Riemann. Es ist ein Teufelskreis: Menschen mit depressiver Veranlagung finden oftmals keinen Schlaf. Es fällt ihnen dadurch immer schwerer, mit Stress umzugehen, sie sinken tiefer in das dunkle Loch der Erkrankung.
Gemeinsame Wurzel?
In vielem steht die Forschung hier noch am Anfang. Aber schon jetzt scheint klar, dass die Insomnie, die Störung des Schlafs, nicht nur eine Folge, sondern vielfach wohl auch eine treibende Kraft hinter Depressionen ist. "Man muss allerdings eines bedenken", sagt der Psychiater Michael Deuschle vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. "Wenn zwei Erkrankungen gehäuft zusammen auftreten, heißt das natürlich nicht zwangsläufig, dass die eine zur anderen führt." Es könne auch sein, dass ein gemeinsamer Faktor sie verursacht. Als Beispiel nennt Deuschle eine bestimmte Variante des Gens für den Serotonintransporter. Sie wird mit einem erhöhten Depressionsrisiko in Verbindung gebracht. "Diese Risikogenvariante konnten wir in einer kleineren Studie mit 180 Patienten auch bei Menschen mit Insomnie finden; es könnte also sein, dass beide Erkrankungen eine gemeinsame biologische Wurzel haben."
Auch Deuschle sieht in der klinischen Praxis einen auffälligen Zusammenhang zwischen Schlafstörungen und seelischen Erkrankungen. "Bei Angstpatienten lässt sich beobachten, dass die Ängste bei schlechtem Schlaf stärker ausgeprägt sind." Das hänge vielleicht damit zusammen, dass gestörter Schlaf mit einer erhöhten Stressreaktion wie einer stärkeren Cortisolausschüttung einhergehe. "Und bei Patienten mit Schizophrenie sind Schlafstörungen oft das erste Symptom, oder – was ich persönlich eher vermute – die auslösende Beschwerde." Deuschle zufolge berichten viele Patienten von Schlafstörungen als einem frühen Anzeichen einer Psychose. Diverse Studien untermauern, dass es sich hierbei nicht nur um einen subjektiven Erfahrungswert handelt. Es gibt ganz offensichtlich eine Verbindung zwischen Schlaf und Schizophrenie – insbesondere zu zwei Symptomen der Erkrankung: Paranoia und Wahnvorstellungen.
Schlafstörungen sorgen unter anderem für negative Emotionen, Wahrnehmungsstörungen und Denkfehler, die auf dem Weg der Entstehung von Wahnvorstellungen eine Rolle spielen. Das lässt sich möglicherweise auch therapeutisch nutzen. Im Rahmen einer Beobachtungsstudie nahmen der klinische Psychologe Daniel Freeman von der University of Oxford und seine Kollegen bei einer Gruppe von 15 Patienten mit Psychosen und Verfolgungswahn unter die Lupe, ob eine kurze kognitive Verhaltenstherapie der Schlafstörungen einen positiven Einfluss haben würde. Tatsächlich verflüchtigten sich bei den Betroffenen nach der Therapie nicht nur die Probleme mit dem nächtlichen Schlummer. Auch Paranoia und Halluzinationen waren auf dem Rückzug. Allerdings zeichneten die gleichen Forscher in einer nachfolgenden, systematischeren Studie ein widersprüchlicheres Bild. Die Halluzinationen verringerten sich nur bei einem Teil der Patienten. Es bleibt also noch abzuwarten, ob und wann eine Behandlung der Schlafprobleme tatsächlich auch Patienten mit Schizophrenie zugutekommt.
Folgen für die Aufmerksamkeit
Eine andere Störung macht schon jetzt mehr als deutlich, welche enormen Auswirkungen der nächtliche Schlummer hat: ADHS. Bei Menschen mit der Aufmerksamkeitsstörung wird das Schlafhormon Melatonin später ausgeschüttet, darum treten Schlafstörungen gehäuft auf. Und nach einer durchwachten Nacht fällt es den Betroffenen noch einmal schwerer, nicht jedem neuen Impuls sofort nachzugeben, sondern ihre Aufmerksamkeit zu konzentrieren.
Belege dafür haben Wissenschaftler der University of British Columbia im kanadischen Vancouver zusammengetragen: Müdigkeit verschlechterte beispielsweise bei Kindern mit ADHS auch die schulischen Leistungen – und zwar über die ADHS-Symptome hinaus. Im Gehirn reagiert offenbar der präfrontale Kortex besonders sensibel auf schlechten Schlaf, und dessen Aufgaben liegen eben gerade in Bereichen wie Impulskontrolle und Aufmerksamkeitssteuerung. Das zeigt einmal mehr: Die Verbindung zwischen psychischen Erkrankungen und Schlafstörungen ist beileibe keine Einbahnstraße – sondern verläuft in beide Richtungen.
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