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Auf der Suche nach der gewonnenen Zeit

Die Uhr tickt einmal im Jahr, alle tausend Jahre soll ein Kuckuck erscheinen. Foto: Rolfe Horn, Courtesy of the Long Now Foundation, www.longnow.org

Noch nie hatten die Menschen so viel freie Zeit wie heute. Und trotzdem hört man überall die Klage über Stress, Hektik, Beschleunigung. Ist daran die moderne Technik schuld, die uns doch helfen sollte, Zeit zu sparen?

27.06.2019
Text: HARALD STAUN

Das Jahrtausend war fast vorüber, als der Schweizer Uhrenhersteller Swatch die Zeit neu erfand: Am 23. Oktober 1998 stellte die Firma nicht nur eine neue Uhr vor, sondern gleich ein neues Messsystem: die Internetzeit. Statt in Stunden und Minuten sollte ein Tag fortan in 1000 Beats eingeteilt werden. Ein Beat war eine Minute und 26,4 Sekunden lang und wurde durch das @-Zeichen symbolisiert. Die neue Zeitrechnung sollte den Menschen auf der ganzen Welt die Umrechnung lokaler Uhrzeiten ersparen und die Synchronisierung ihrer Termine erleichtern. Dass sich global vernetzte Menschen aus verschiedenen Zeitzonen im Zeitalter der grenzenlosen Kommunikation immer noch mit verwirrenden Lokalzeiten herumschlagen mussten, hielten die innovativen Schweizer für eine Zumutung.

Eine Geschichte aus der aktuellen Ausgabe des Magazins der F.A.Z. „Frankfurter Allgemeine Quarterly“

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Den Meridian für die neue Zeitrechnung verlegte man ganz unbescheiden ins schweizerische Biel, an den Hauptsitz des Unternehmens: Die Biel Mean Time (BMT) sollte zur universellen Referenz für die neue Weltzeit werden. Als Unterstützer des Projekts konnte Swatch immerhin Nicholas Negroponte gewinnen, Direktor des berühmten Media Lab am Massachusetts Institute of Technology und Visionär vom Dienst der späten neunziger Jahre. Negroponte sparte nicht an revolutionären Thesen: „Der Cyberspace kennt keine Jahreszeiten und weder Nacht noch Tag“, verkündete er. „Internetzeit ist nicht geopolitisch, Internetzeit ist global. In der Zukunft wird für viele Menschen die Internetzeit die reale Zeit sein.“


Zwischen Slow Food und Speed Dating sucht jeder selbst das Tempo, in dem sein Leben ablaufen soll.
MAX MUSTERMENSCH

Heute, in der Zukunft von damals, wissen wir, dass es anders kam: Die Zeit wird immer noch in Stunden, Minuten und Sekunden gemessen, außer vielleicht von ein paar Sammlern bunter Swatch-Uhren. Die Internetzeit konnte sich genauso wenig durchsetzen wie die Dezimalzeit des Französischen Revolutionskalenders. Und trotzdem war das Projekt nicht nur ein Marketing-Gag, sondern Ausdruck einer neuen Wahrnehmung der Zeit, einer Auflösung der linearen Ordnung des analogen Zeitalters, die zwanzig Jahre später längst in vielen Lebensbereichen spürbar ist: Tatsächlich strukturiert heute eine Art Internetzeit den Alltag, auch wenn sie wenig mit der universalistischen Idee von Swatch zu tun hat: eine individualisierte und zerhackte Zeit, ein Nach- und Nebeneinander verschiedener Rhythmen und Lebensgeschwindigkeiten. Die Menschen tragen ihre modernen Zeitgestaltungsmaschinen am Körper, mittlerweile auch wieder dort, wo einmal Armbanduhren ihren Platz hatten, und werden zunehmend zu Managern ihrer eigenen Zeit. Statt verbindlicher Termine herrscht perfekt organisiertes Chaos: Verabredungen sind spontan verhandelbar, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwinden, zwischen Slow Food und Speed Dating sucht jeder selbst das Tempo, in dem sein Leben ablaufen soll. Und obwohl Hunderte Apps uns helfen, Zeit zu sparen, hat fast jeder das Gefühl, davon viel weniger zu haben als früher.

Dabei sollte doch alles auf eine Befreiung hinauslaufen, auf ein Ende der Tyrannei der Uhr – und das war nicht allein die Überzeugung großspuriger Berufsvisionäre wie Negroponte. Dass die Veränderungen durch die technischen Medien auch das Verhältnis der Menschen zur Zeit neu prägen würden, war schon zu Beginn des Informationszeitalters absehbar: Prozessoren, die in einer Zeitspanne jenseits der menschlichen Wahrnehmbarkeit (in „Echtzeit“, wie das später heißen sollte) rechneten und schalteten, Geschäfte machten und Entscheidungen trafen; Betriebssysteme mit Multitasking, die ganz neue Arbeitsabläufe etablierten; das Internet, das dank seiner Unabhängigkeit von lokalen Einschränkungen Gleichzeitigkeit und Allzeitverfügbarkeit für alle und alles verhieß: All diese neuen Bedingungen würden nicht nur den Rhythmus des Alltags auf den Kopf stellen, sondern eine neue Zeitordnung im Sinn des Wortes bewirken, sozial genauso wie individuell. „Digital“ war nicht länger einfach nur der Begriff für Uhren, die die Zeit durch segmentierte Striche sichtbar machten statt mit Zeigern. „Digital“ war das Kürzel für einen radikalen Strukturwandel, der nach der geographischen auch die temporale Ordnung zu zersetzen drohte.

In einem Berg im Westen von Texas wird die „10.000-Jahre-Uhr“ gebaut. Foto: Courtesy of the Long Now Foundation, www.longnow.org

Auch im frühen 19. Jahrhundert beklagten die Zeitgenossen, die durch das widernatürliche Tempo der Eisenbahn die Orientierung verloren hatten, die „Vernichtung von Raum und Zeit“. Die Synchronisierung der Fahrpläne erforderte einheitliche und verlässliche Zeitangaben, die Herrschaft der Uhr begann. Die Uhr, nicht die Dampfmaschine, war, nach einem berühmten Satz des Kulturkritikers Lewis Mumford, die wichtigste Maschine des Industriezeitalters. Sie gab nicht einfach nur die genaue Zeit an, sondern produzierte das moderne Zeitbewusstsein – die Vorstellung, dass Zeit etwas ist, was linear und chronologisch verläuft, koordiniert und irreversibel. Vor allem die Standardisierung empfanden viele Bürger zunächst als diktatorisch, als zentralistischen Eingriff in die Autonomie der eigenen Zeiteinteilung. Aber gegen die Effizienz dieser Maschine halfen solche Befindlichkeiten wenig. Die Wettbewerbsvorteile zeitrationalisierter Produktion waren unbestreitbar: Frederick Taylors Prinzip, alltägliche Arbeitsabläufe zu kategorisieren, bis auf die Zehntelsekunde genau zu messen und perfekt aufeinander abzustimmen, ist heute längst auch jenseits der Fabriken eine Obsession von professionellen Prozessoptimierern und privaten Selbstvermessern.

In der Informationsgesellschaft jedoch schien sich das rigide Regime der Uhr allmählich wieder aufzulösen: Wie bei vielen anderen analogen Machtstrukturen, sorgten die neuen Medien auch beim Zeitmanagement für eine gewaltige Flexibilisierung. In seinem Standardwerk „Das Informationszeitalter“ konstatierte der spanische Soziologe Manuel Castells schon 1996 den Anbruch einer „zeitlosen Zeit“, die die Zeit des Industriezeitalters ersetzen würde: „Zeitlos“ nannte er diese Zeit, weil die Netzwerkgesellschaft die Abfolge sozialer Praktiken durcheinanderwirbelte und so zu einer Vermischung der Zeitebenen führte, zu einem „Universum des Für-Immer“. Schon drei Jahre zuvor wurde sein deutscher Kollege Armin Nassehi mit einer soziologischen Theorie der Zeit promoviert („Die Zeit der Gesellschaft“) und zeigte, dass sich die Differenzierung der Gesellschaft auch in der Differenzierung von zeitlichen Perspektiven und Horizonten niederschlägt, ein Auseinanderdriften individueller Zeitregime, welches, wie Nassehi folgerte, „ein spezifisches temporales Problem“ hervorbringe: die „permanente Notwendigkeit“ der Synchronisierung.

Nicht alle Zeitgenossen beunruhigte das. Für den französischen Philosophen Pierre Lévy, auch er einer der frühen Utopisten des Cyberspace, kam die Zeit durch ihre Emanzipation von der Uhr endlich wieder zu sich selbst, zum Einklang mit einer natürlichen, „inneren Zeit“, wie sie sein Kollege Henri Bergson begriff. „Im Wissensraum“, schrieb Levy, „entspringt die Zeit einer Verschiedenheit lebender Quellen, die zusammenfließen. Verschiedenen Zeitblasen blubbern auf und kommunizieren miteinander wie musikalische Rhythmen.“ Auch wenn nicht alle so poetisch wurden: Die Auflösung der Gesetze der analogen Welt, wie sie etwa John Perry Barlow in seiner „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ verkündet hatte, schien auch für die Konventionen der Zeit zu gelten. Das Scheitern der Revolution, die sich Swatch ausgedacht hatte, hatte deshalb nicht nur damit zu tun, dass die kommerziellen Interessen dahinter zu durchschaubar wurden. Das Problem war eher, dass niemand die alten einfach gegen neue Standards eintauschen wollte. Die wahren Euphoriker hielten eine weitaus größere Emanzipation für möglich: „Lasst uns einen offenen Standard hervorbringen, eine echte virtuelle Zeit, die allen und keinem gehört. Lasst uns die Machtergreifung der Unternehmen bekämpfen und die wilde Vielfalt aller möglicher Wetware-Zeiten feiern: die ekstatische und unendliche Zeit des Rave, die Zeit des Schicksals, die Zeiträume der Medienmixe. Es gibt eine ausgedehnte Zeit der Langeweile und der Reflexion und unsere intensive Zeit der Erfahrung, in der Vergnügen und Erleuchtung aufblitzen“, kommentierte der Netzkritiker Geert Lovink das Swatch-Projekt.

Im Stollen des Berges werden fünf Kammern gegraben, für ein Jahr, zehn, 100, 1000 und 10.000 Jahre. Foto: Courtesy of the Long Now Foundation, www.longnow.org

Die Flexibilisierung der Kalender schritt voran, aber von Vergnügen spüren die meisten heute genauso wenig wie von Langeweile. Wie andere Formen der Herrschaft, so scheint auch das neue Zeitregime wie das autosuggestive Flüstern einer Soft Power zu wirken. So wächst der Druck, sich seine Zeit einerseits selbst einzuteilen und andererseits mit anderen zu synchronisieren. Er wird nicht kleiner dadurch, dass sich auch die sozialen Ansprüche an eine sinnvolle Termingestaltung heftig widersprechen: Zum einen muss sie, um den Wettlauf mit den anderen Optimierern nicht zu verlieren, so effizient wie möglich ausfallen; zum anderen sollte sie bloß nicht vergessen, regelmäßige Pausen und „Quality Time“ mit den Kindern einzuplanen. In einem offenbar chronisch gestressten Zeitalter ist der Ruf nach Entschleunigung so laut, dass man kaum die nötige Ruhe für eine ordentliche Achtsamkeitsübung findet.

Warum aber wächst überhaupt das Bedürfnis nach Auszeiten, Innehalten, Langsamkeit? Wenn sich heute alles schneller erledigen lässt, wenn Computer schneller rechnen, Informationen schneller gefunden werden, Nachrichten schneller ankommen; wenn außerdem in fast allen Ländern die Wochenarbeitszeit langsam, aber kontinuierlich zurückgeht und die freie Zeit zunimmt: Warum haben die meisten Menschen, wie sie immer wieder in Umfragen behaupten, trotzdem das Gefühl, weniger Zeit zu haben?


Die Uhr, nicht die Dampfmaschine, war die wichtigste Maschine des Industriezeitalters.
MAX MUSTERMENSCH

Die Soziologin Judy Wajcman hat in ihrem Buch „Pressed for Time“ dieses „Zeitdruck-Paradox“ genau analysiert. Mit Blick auf viele empirische Studien zur Zeitnutzung widerlegt sie den weit verbreiteten Determinismus, der die moderne Technik für das vermeintlich unmenschliche Tempo unserer Epoche verantwortlich macht. Nicht die Technik selbst ist an der zunehmend rasanter werdenden Dynamik schuld, stellt sie fest, sondern es sind die kulturellen Normen, die gewissermaßen in die Geräte und Apps eingebaut sind. Dass alles immer schneller, voller, kürzer wird, liegt vor allem daran, dass dies, entgegen aller Klagen, keineswegs nur als Stress erfahren wird: „Beschäftigt zu sein ist zur notwendigen Bedingung für einen erfüllten Lifestyle geworden“, schreibt sie. Für Wajcman verdankt sich dieses Ideal nicht etwa einem verfehlten Statusdenken, sondern ist Ausdruck eines modernen Selbstverständnisses, das grundsätzlich Abwechslung, Vielfalt, Aktivismus propagiert. Deshalb wird Beschleunigung prinzipiell als etwas Positives erfahren: „Kulturelle Beschleunigung, also in der Zeit, die man hat, das Meiste zu machen und von den zahllosen Möglichkeiten, die die Welt bietet, so viele wie möglich zu verwirklichen, ist die säkulare Version des menschlichen Glücks“, schreibt sie.

Dass dieses Glück trotzdem zunehmend als derart unerträglich empfunden wird, dass sich einige Zeitgenossen nach vormoderner Langeweile sehnen, liegt daran, dass diese Ideale längst auch die Freizeit prägen. Die Veränderung der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen in den vergangenen Jahrzehnten, wie sie etwa die Studie „Freizeitmonitor“ ermittelt, spricht auf den ersten Blick nicht unbedingt für eine Gesellschaft im Geschwindigkeitsrausch: Zwar sind Aktivitäten wie „Aus dem Fenster sehen“ und „Nichtstun“, die vor Jahrzehnten noch enorm populär waren, aus den Top Ten verschwunden, doch auch die heute beliebten Beschäftigungen – Fernsehen, Radio- und Musikhören, Internet – gelten ja in der Regel eher als Sedativum. Stark verändert hat sich aber die Gestaltung dieser Tätigkeiten: Trotz Phänomenen wie exzessivem Binge Watching sind sie heute viel stärker fragmentiert. Beim Fernsehen surft man auf dem Second Screen, beim Sport telefoniert man mit Freunden, im Restaurant checkt man die neuesten Facebook-Posts. Und zwischendurch erledigt man tausend Dinge, die früher andere für einen besorgten: Flüge suchen, Reparaturanleitungen finden, Preise vergleichen, Preisevergleich-Apps vergleichen.


Die Freizeit ist heute nicht kürzer als früher. Aber vor allem für Frauen ist sie dabei zugleich weniger frei.
MAX MUSTERMENSCH

Viel stärker als früher, auch das belegt Wajcman, werden Freizeitaktivitäten heute unterbrochen, wird „reine“ Freizeit „von sekundären Aktivitäten kontaminiert“. Besonders betrifft dies jene Gruppe, die ohnehin schon unter einem „Gender Gap in der Freizeit“ leidet: Weil Frauen heute zwar mehr beruflich arbeiten, aber deshalb die unbezahlte Arbeit kaum weniger wird, und weil die Zeit, die ihnen bleibt, viel stärker als die ihrer Männer, Freizeit mit Kindern ist, ist ihre Freizeit nicht nur kürzer, sondern auch weniger frei. Zudem scheint der technische Fortschritt ausgerechnet im Haushalt zu stagnieren: Die Waschmaschinen waschen heute kaum schneller als vor dreißig Jahren, die Bügeleisen bügeln immer noch nicht von selbst, die Fertigpizza braucht nach wie vor zehn Minuten, und Roboterstaubsauger werden gerade erst serienreif. Nur die Ansprüche an Sauberkeit und Kochkünste steigen stetig. Verbessert haben sich dagegen vor allem die Geräte, die Zeit verbrauchen statt zu schaffen: Fernseher, Telefone, Unterhaltungsapparate.

Die wiederum helfen uns, wo sie nur können, wenigstens jene Zeit zu sparen, die wir mit ihnen verschwenden: Autovervollständigung, E-Mail-Assistenten, One-Click-Systeme versuchen den frustrierenden Zeitaufwand wieder auszugleichen, den wir für Anmeldungen, Installationen, Online-Formulare oder Updates benötigen. Vor allem die Disziplin des Zeitmanagements hat sich von einer professionellen Praxis zum privaten Hobby entwickelt. Der Erfolg dieser Methoden ist schon deshalb erstaunlich, weil sie oft dazu raten, die einfachsten Aufgaben mühsam zu definieren und zu kategorisieren, statt sie einfach nacheinander zu erledigen. Und selbstverständlich braucht der ambitionierte Zeitsparer erst einmal Tage, um herauszufinden, welches System für ihn das beste ist, ein Phänomen, das selbst wiederum in zeitraubender Ausführlichkeit unter dem Stichwort „Productivity Addiction“ im Netz behandelt wird.

Relikt einer gescheiterten Revolution: Swatch-Uhr mit einer Anzeige für „Beats“, die Einheit der Internetzeit, die das Unternehmen 1998 einführen wollte. Foto: Swatch

An der Beliebtheit von Apps, die versprechen, dass man „Stunden zurückgewinnen“ oder „Zeit retten“ kann, ändert das nichts. Mit Hilfe solcher Programme lassen sich persönliche Verhaltensweisen und Routinen so detailliert analysieren, dass es Frederick Taylor eine Freude wäre: Sie messen, wie lange man schläft, isst, Sport treibt oder wie viel Zeit man im Internet verbringt, schlagen Alarm, wenn man zu lange unproduktiv im Internet surft oder blocken die entsprechenden Seiten gleich ganz. Die App „Beeminder“ bietet besonders überzeugende Anreize für Selbstdisziplinierungsprofifis: Wer dort seine Produktivitätsziele verpasst, muss Geld zahlen. Aber auch für die optimale Auszeit gibt es mittlerweile Unmengen von Angeboten: Bei „Calm“ kann man mit Meditationsübungen und Einschlafgeschichten zu innerer Ruhe finden; „Forest“ verspricht, Bäume zu pflanzen, wenn der Nutzer sein Handy für eine bestimmte Zeit nicht anfasst. Und bei der AOK-App „meine Ich-Zeit“ kann man seine Zeit damit vertrödeln, zu kitschigen Bildern Kalendersprüche wie „Höre auf zu warten, beginne zu leben“ zu lesen.

Dass diese Art der Muße vor allem eine „Optimierungsstrategie für den gut verdienenden Zeitverdichter unserer Tage“ ist, wie der mit seiner Beschleunigungstheorie bekanntgewordene Soziologe Hartmut Rosa meint, ist eine naheliegende Kritik. Dass der Wunsch nach einer gesunden „Work-Life-Balance“ mittlerweile auch in Tarifverhandlungen die simple Forderung nach höheren Löhnen oder besseren Arbeitsbedingungen ablöst, drückt schon begrifflich eine sehr mechanistische Daseinsvorstellung aus: als seien Leben und Arbeit zwei Gegenpole eines Perpetuum mobile, die ins Gleichgewicht gebracht werden müssten. Freizeit erfüllt dabei zunehmend eine Funktion, nämlich jene, wie es in einer beliebten Floskel unserer Tage heißt, „den Akku aufzuladen“. Angesichts ständig sinkender Arbeitszeiten muss man sich allerdings fragen, was eigentlich anstrengender ist: eine Freizeit, in der ständig Distinktionsgewinne eingefahren werden müssen, oder ein erfüllender Job. Möglicherweise ist der Stress ja eher das Resultat von zu viel Freizeit, in der man ständig versucht, irgendein Selbst zu verwirklichen, welches im Minijob keine Berufung mehr findet.


Ist Zeit der neue Luxus? Selbst Millionäre haben nicht mehr Freizeit, sie verbringen sie nur anders.
MAX MUSTERMENSCH

So sehr die Freizeit heute auch als Inbegriff des postmateriellen Luxuslebens gilt, so wenig scheint finanzielle Unabhängigkeit gegen das Gefühl zu helfen, ständig in Eile zu sein: Selbst Millionäre, so zeigte im vergangenen Jahr eine Studie der Harvard Business School, leisten sich nicht mehr Freizeit. Mit Arbeiten, Kochen, Einkaufen, Essen verbringen sie genauso viel Zeit wie die Durchschnittsbevölkerung. Ihre freie Zeit ist nicht länger – sie verbringen sie nur anders. Statt fernzusehen, treiben sie Sport, statt zu entspannen, arbeiten sie ehrenamtlich – und obwohl sie weniger Sex haben und mehr beten, erleben sie ihre Freizeit stressiger als die Normalverdiener; und sind trotzdem, weil ihnen ihre Aktivitäten sinnvoller erscheinen, insgesamt glücklicher. Womöglich kann man an dieser paradoxen Erkenntnis ganz gut ablesen, warum viele Menschen einem hektischen Lebenswandel so schwer entkommen: weil viele gar nicht unbedingt zurückhaben wollen, was gemütlichere Zeiten mit sich brachten: all die Monotonie, die Unbeweglichkeit, den Stillstand.

Entschleunigung dagegen, wie sie heute so oft als Rezept gegen die Aufmerksamkeitsfallen und den Kommunikationsterror der Gegenwart verschrieben wird, muss schon mit viel Zielstrebigkeit betrieben werden, um sich vom gemeinen Herumhängen zu unterscheiden. Selbst dann wirkt sie nur als individuelle Therapie. Am Tempo der sozialen oder ökonomischen Dynamik ändert sie nichts. Man kann die Macht des Microtrading nicht durch Töpfern besiegen. Dass es überhaupt so etwas gäbe wie eine „natürliche“ Zeit, einen Lebensrhythmus, der der Biologie des Menschen auf eine Art organische Weise entspräche, ist eine Illusion. Wie Menschen die Geschwindigkeit, die Chronologie ihres Lebens wahrnehmen, hing schließlich auch früher schon weniger von der Frequenz ihres Ruhepulses ab, sondern mehr von ihrer medialen oder kulturellen Situation: Erst mit dem Buchdruck änderte sich die Vorstellung einer zyklischen zu einer linearen, fortschreitenden Zeit, in der sich das Wissen nicht mehr einfach als Ausdruck ewiger Wahrheiten offenbart, sondern Geschichte und Ideen immer weiter fortgeschrieben werden können.

Was vielen heute wie Beschleunigung vorkommt, hat mit dem Fortschritt, wie er noch in der Moderne versprochen wurde, kaum etwas zu tun. Nicht die rasanten Veränderungen sind die Zumutung unserer Zeit, die finden kaum noch statt. Mag sein, dass heute die Konsumgüter schneller ausgetauscht werden, die Lebensentwürfe öfter wechseln und auch sonst vieles kürzer hält als früher: die Mode, die Debatten, die Regierungen (nur Ehen halten seltsamerweise immer länger). Aber statt Veränderung gibt es nur Updates. Und wer zu laut darüber nachdenkt, ob die Zukunft nicht doch anders aussehen könnte als die gegenwärtigen Verhältnisse, gilt als rückwärtsgewandter Romantiker.


Was vielen wie Beschleunigung vorkommt, hat im Grunde mit Fortschritt nichts zu tun.
MAX MUSTERMENSCH

Selbst in der eigenen Biographie geht es nicht mehr um Entwicklung, um eine Lebensgeschichte mit Vergangenheit und Zukunft. In den sozialen Medien jedenfalls kommt es vor allem auf die Verdichtung der Gegenwart an, auf maximale Präsenz in Livefeeds und „Insta“-Posts. Auch wenn etwa Facebooks „Timeline“ (oder die „Chronik“, wie es noch trügerischer im DeutDeutschen heißt) die Bedeutung der Erinnerung suggeriert, kommt den Benutzern in den sozialen Medien ihre eigene Biographie in Echtzeit abhanden. Die wahren Chronisten sitzen am Back-End der Verbindung, wo sie individuelle Augenblicke zu geschichtslosen Daten komprimieren und daraus eine möglichst berechenbare Zukunft prozessieren. So erleben wir, was uns als Disruption präsentiert wird, nur als unendliche Ausdehnung der Gegenwart. Den „Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ hat das der Filmemacher Alexander Kluge einmal genannt. Die Welt dreht sich, wenn man so will, zwar immer schneller, aber im Kreis. Vielleicht ist es das, was uns so ermüdet.

In einem Berg in Texas, tief unter der Erde, hat der reichste Mann der Welt vor einem guten Jahr begonnen, dieser ewigen Gegenwart ein Denkmal zu bauen: die „10.000-Jahre-Uhr“. Schon 1995 hatte der Computeringenieur Danny Hillis die Idee, der Internetimpresario Stewart Brand trieb sie mit der „Long Now Foundation“ voran – und weil irgendwann auch der Amazon-Milliardär Jeff Bezos das Projekt unterstützte, wird die Uhr jetzt auch gebaut: 150 Meter groß, 42 Millionen Dollar teuer. Sie tickt einmal im Jahr, zeigt die Jahreszahlen im fünfstelligen Format an, ihr von Brian Eno arrangiertes Glockenspiel ertönt jedes Mal mit einer neuen Melodie. Noch in 10.000 Jahren soll sie die genaue Zeit anzeigen. Damit dürfte bis auf weiteres die Frage geklärt sein, wer die exklusivste Uhr besitzt. Aber angeblich geht es Bezos nicht ums Prestige: Die Uhr soll ein Symbol für die Macht des langfristigen Denkens werden, eine Ermutigung, den zeitlichen Horizont zu erweitern. So wie einst das Bild der Erde aus dem Weltall das Bild der Welt veränderte und die Umweltbewegung in Gang setzte, so soll die Uhr, meint Brand, Verständnis für die Verantwortung der Gegenwart für eine ferne Zukunft wecken.

Überfordert uns die neue Flexibilität? Brauchen wir wirklich mehr Auszeiten? Oder ein ganz neues Bewusstsein für das Tempo unserer Epoche?

Nun ist es, einerseits, einigermaßen widersinnig, wenn jener Mann langfristige Verantwortung anmahnt, der sein Geld damit verdient, den Menschen ihre Wünsche immer schneller zu erfüllen und wie kein Zweiter den Turbo des Kapitalismus einschaltet. Und andererseits hat er ja recht: Nie war eine Erweiterung des Zeithorizonts wichtiger als in einer Epoche, in der Tierarten sterben und Polkappen schmelzen, in einer Zeit also, in der die Zukunft bedroht ist, weil langsam, aber unaufhaltsam die Vergangenheit verschwindet. Fatal ist nur die Vorstellung, die Rettung bestehe in der Verlängerung der Gegenwart, wie der Begriff des „Long Now“ vorschlägt. In Ruhe, Kontinuität, Bewahrung.

Um dem Hamsterrad der Gegenwart, wie es so gern genannt wird, zu entkommen, brauchten wir eine neue Perspektive, ein Interesse an Veränderungen, wie sie zurzeit etwa jene Kinder zeigen, die jeden Freitag für die Zukunft auf die Straße gehen. Um eine solche Zukunft zu erreichen, brauchen wir weder neue Uhren noch Besinnlichkeit. Gegen den „Rasenden Stillstand“, wie es der Philosoph Paul Virilio genannt hat, hilft keine Atemübung. Sondern nur Bewegung, Wachheit, Turbulenz. Und zwar so schnell wie möglich.


Nächstes Kapitel:

Trivia, Varia, Kuriosa zur Zeit



Trivia, Varia, Kuriosa zur Zeit

Text: CLAUDIUS SEIDL, HARALD STAUN, CAROLINE JEBENS
Fotos: JOHANN CLAUSEN & ALEXANDER GRAESER
Styling: KAMILLA RICHTER & INA WITZEL
Haare & Make-up: JANA KALGAJEVA
Fotoassistenz: STEFAN HOEFERLEIN

1 Arbeiten

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Wenn man nur Durchschnittswerte und Nettozeiten misst, dann arbeitet der Deutsche im ganzen Leben bloß acht Jahre lang. Pullover und Jackett Joseph

2 Reisen zurück

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Eine Reise in die Vergangenheit ist nur theoretisch möglich: Man müsste, mit negativer Energie, ein Wurmloch schaffen, einen Tunnel durch die Raumzeit. So ein Ding wäre aber äußerst instabil, und weil Teilchen, die sich hindurchbewegen, das immer wieder tun würden, bestünde die Gefahr, dass zu viel Energie entsteht. Und aus dem Wurmloch ein schwarzes Loch wird.

3 Reisen nach vorn

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Eine Zeitreise in die Zukunft ist nicht nur möglich; sie wird immer wieder praktiziert, wenn auch nicht so elegant, wie das in den Visionen vom Bau einer Zeitmaschine geht. Wer sich sehr schnell bewegt, für den vergeht die Zeit langsamer, er kommt also, wenn die Reise beendet ist, in der Zukunft an. Am weitesten gereist ist der russische Kosmonaut Sergej Krikaljow; er war 803 Tage im All und hat sich mit 27.000 Stundenkilometern bewegt. Er ist dabei um den 48. Teil einer Sekunde in die Zukunft gereist.

4 Konstruieren

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Von dem Moment, da Licht auf die Netzhaut trifft, bis zu dem, da das Gehirn daraus ein Bild konstruiert hat, vergehen 13 Millisekunden.

5 Fliegen

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Wenn man im Juni zur richtigen Zeit vom Süden in den Norden fliegt, sieht man die Sonne abends aufgehen – und zwar im Westen. Wenn man etwa am 1. Juni kurz nach 21 Uhr in München abhebt, ist dort die Sonne gerade untergegangen. Auf dem Weg, beispielsweise nach Berlin, wird man sie kurz aufgehen sehen. Allerdings geht sie dann auch wieder unter. Berlin auf so einem Flug bei Sonnenlicht zu erreichen, schafft ein Linienflugzeug nicht.

6 Feiern

Zu den Zeiten, da der Überschalljet Concorde noch flog, kam es vor, dass sehr reiche Menschen ein Flugzeug für die Silvesternacht charterten. Sie feierten den Jahreswechsel in Paris, stiegen in die Concorde und kamen im alten Jahr in New York an, wo sie noch einmal Silvester feierten.

7 Altern

Wer in den Bergen lebt, altert schneller als ein Bewohner des Tals. Das liegt daran, dass auch Gravitation die Zeit verlangsamt. Man braucht allerdings eine Atomuhr, um den Unterschied, den zweitausend Meter ausmachen, messen zu können.

8 Vorgehen

Seit Francos Zeiten hat Spanien einen Jetlag – das Land liegt eigentlich viel zu weit westlich für die mitteleuropäische Zeitzone. Aber Franco wollte schon während des Bürgerkriegs, dass Spanien in derselben Zeitzone wie Deutschland liege; auch, damit die Bomberpiloten der deutschen Legion Condor ihre Uhren nicht umstellen mussten.

9 Überholen

Die Tage vom 5. bis zum 14. Oktober 1582 haben niemals stattgefunden – nicht in den katholischen Gebieten des Heiligen Römischen Reichs, des Kirchenstaats, Spaniens, Portugals und der meisten italienischen Territorien. Der alte, julianische Kalender ging nach, Papst Gregor VIII. hatte vorgeschlagen, zehn Tage zu überspringen. Die meisten protestantischen Länder folgten erst ums Jahr 1700 herum – so dass, wer im Jahr 1648 eineinhalb Tage vom katholischen Bamberg ins evangelische Nürnberg reiste, dort neun Tage eher ankam, als er abgereist war.

10 Messen

Das Jahr, in dem dieser Artikel erscheint, ist das Jahr 2772 nach der Gründung Roms, das Jahr 2563 nach Buddha, das Jahr 5780 nach Erschaffung der Welt, das Jahr 1440 nach der Hidschra – um nur einige die geläufigsten Zeitrechnungen zu nennen.

11 Zählen

Am 5. Februar hat in China das Jahr des Schweins angefangen, das zwölfte Jahr im dritten Teilzyklus des 78. Zyklus des chinesischen Kalenders.

12 Schlafen

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24 Jahre und vier Monate schläft der Durchschnittsdeutsche in seinem Leben.
Pullover Lazoschmidl, Objekt OrtaMiklos, „IceBerg Throne“, 2018, Acryl, Epoxid, EPS, 90 x 70 x 107 cm, Courtesy of Peres Projects, Berlin

13 Riechen

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Die Bewohner der Andamanen-Inseln benutzen Pflanzen als Kalender. Da verschiedene Pflanzen zu verschiedenen Jahreszeiten unterschiedlich stark riechen, teilen sie das Jahr nach Gerüchen ein.

14 Fluten

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Weil Ebbe und Flut der Erddrehung entgegenlaufen, hat diese sogenannte Gezeitenreibung eine bremsende Wirkung: Die Rotation verlangsamt sich, die Tageslänge nimmt damit zu. Pro Jahrhundert macht das etwa 23 Millisekunden aus.

15 Gehen

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Das Land, in dem die Menschen am schnellsten gehen, ist Irland (was sich die Iren selbst durch die Kälte erklären, die dazu führe, dass es die Menschen eilig hätten). Auf Platz zwei folgen die Niederlande. Und am drittschnellsten bewegen sich die Menschen, überraschenderweise, in der Schweiz.
Bluse Jil Sander, Hose COS

16 Aufziehen

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Das Land, in dem die Uhren am genauesten gehen, ist erwartungsgemäß die Schweiz. Platz zwei allerdings hat Italien, Platz drei Österreich.

17 Laden

Pro Minute werden etwa 400 Stunden Videomaterial auf Youtube hochgeladen. Das sind ungefähr 1,2 Millionen Bilder, die vom menschlichen Gehirn erst konstruiert werden müssen.

18 Täuschen

Die meisten Kirchen auf der Insel Malta haben zwei Kirchtürme mit je einer Uhr, aber nur eine Uhr geht richtig. Das liegt zum einen daran, dass es auf Malta so viele Kirchen gibt, dass man sich die vielen Uhren gar nicht hätte leisten können. Eine wurde also aufgemalt. Zum anderen ging es darum, mit der falschen Uhrzeit den Teufel zu verwirren.

19 Überleben

In den eisigen Gewässern des Nordatlantiks schwimmen die Grönlandhaie, die mehrere hundert Jahre alt werden können. Das älteste Exemplar wird auf 392 Jahre geschätzt; das Tier wurde also geboren, als in Europa der Dreißigjährige Krieg tobte.

20 Abfahren

Noch im 19. Jahrhundert hatten viele Ortschaften in Europa und Nordamerika ihre eigene Zeit. Was, als die Eisenbahnen gebaut wurden, dazu führte, dass die Menschen ihre Züge verpassten. 1840 führte die Great Western Railway bei allen Bahnhofsuhren des Vereinigten Königreichs die Londoner Zeit ein. Später entwickelte der kanadische Eisenbahningenieur Sandford Fleming das noch heute gültige System der Zeitzonen, das 1884 in Washington beschlossen wurde, mit dem Nullmeridian, der durch Greenwich bei London geht.

21 Ankommen

Als das versteinerte Skelett des Tyrannosaurus Rex „Sue“ 1990 in der Wüste South Dakotas entdeckt und bis in die Dämmerung hinein ausgegraben wurde, leuchteten am Himmel die Sterne. Vor 67 Millionen Jahren soll „Sue“ auf der Erde gewandelt sein. Genauso viele Lichtjahre legte das Licht der Sterne aus der Galaxie NGC 613 zurück, um die Überreste des Tieres zu erreichen.

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Quelle: F.A.Z. Quarterly

Veröffentlicht: 27.06.2019 16:45 Uhr