"Die Welt tendiert zur Komplexität"

Im Gespräch mit dem Audi-Magazin erklärt Harry Gatterer, warum lineares Denken in unserer vielschichtigen Welt nichts bringt und komplex nicht zwangsläufig kompliziert bedeutet.

Der Begriff Digitalisierung löst oftmals ein gewisses Unbehagen aus, weil damit viele Veränderungen im täglichen Leben einhergehen. Sind wir Österreicher und Deutschen veränderungsunwillig?

Gatterer: Ich glaube, wir tragen tatsächlich eine kulturelle Melange in uns, die es uns ein bisschen schwer macht, der Veränderung grundsätzlich etwas Positives abzugewinnen. Andererseits, warum verändern sich Menschen in erster Linie? Menschen verändern sich, um gleich zu bleiben. Es gibt ja keinen Veränderungsdrang per se, sondern der Veränderungsdrang entsteht dann, wenn mir klar wird, ich muss mich verändern, um letztlich der Gleiche zu bleiben, damit nicht die Umstände mich Es ist nicht die Komplexität, die Kompliziertheit schafft. zu einem anderen machen. Beispiel Social Media: Ich kommuniziere über andere Kanäle, aber ich bleibe mit den gleichen Leuten in Kontakt und damit selbst der Gleiche. Diese neue Technologie wurde in Österreich beispielsweise sehr gut angenommen, ich glaube daher nicht, dass es eine grundsätzliche Abwehr der Österreicher gegen technische Entwicklungen gibt. Aber der proaktive Zugang, also immer als Erster dabei sein zu wollen, das liegt unserer Seele nicht so nahe.

Digitalisierung macht unsere Welt komplexer. Macht sie sie auch komplizierter?

Gatterer: Die Welt tendiert zur Komplexität. Durch neue Technologien wird das sichtbar. Diese Entwicklung hat in vielen Bereichen deutlich an Geschwindigkeit zugenommen.
Dadurch kann es für den Einzelnen auch kompliziert werden, weil er die Welt neu lernen und Zusammenhänge neu verstehen muss. Es tauchen ständig Dinge auf, mit denen man nicht gerechnet hat. Das lässt manches vielleicht kompliziert erscheinen. Dazu kommt, dass die Komplexität in allen Bereichen steigt, selbst bei vermeintlich einfachen Alltäglichkeiten. Das heißt, die Anforderungen an den Einzelnen werden höher, und damit wird das Leben ein Stück weit komplizierter. Komplex und kompliziert darf man aber nicht verwechseln. Es ist nicht die Komplexität, die Kompliziertheiten schafft, denn Kompliziertheiten kann man ganz einfach wieder abschaffen, wenn man sie erkannt hat.

Welche Kompetenzen sollten wir uns dazu aneignen?

Gatterer: Sie sollten Komplexitäten lieben lernen und das bedingt, dass Sie eine andere Form von Mustererkennnung haben, dass Sie die Zusammenhänge neu erkennen. Wir denken jetzt sehr kausal und linear. Das lineare Denken nützt uns in Zukunft nichts, da denkt man immer falsch, da hat man in einer komplexen Welt immer mehr nicht gesehen als gesehen. Also besser die Wahrnehmung verändern, dem Geschwindigkeitswahn nicht unterliegen, sondern verstehen, dass es die Rücknahme des Tempos und Geduld braucht, um sich in einer höheren Komplexität zu bewegen. Drittens, lernen Sie Achtsamkeit! Lernen Sie zu beobachten, wie Sie Ihre Aufmerksamkeit steuern. Wir sind ja zu einer emotionsgesteuerten Erregungsgesellschaft geworden. Dem sollte man gegenüberstellen, dass es wichtig ist, achtsam zu sein. Man muss nicht jede Emotion der Gesellschaft zwingend zu seiner eigenen machen. Man kann sich entscheiden.


Sollte man dazu den bewussten temporären Verzicht auf digitale Angebote anwenden?

Gatterer: Das ist ein gangbarer Weg, um diese Form der Achtsamkeit zu trainieren, um eine Verhaltensänderung herbeizuführen. Jeder, der schon mal eine Diät ausprobiert hat, weiß, dass eine Das lineare Denken nützt uns in Zukunft nichts, da hat man in einer komplexen Welt immer mehr nicht gesehen, als gesehen. kurzfristige Umstellung nichts bringt. Es braucht eine langfristige Veränderung, die erst greift, wenn ich mein Verhalten trainiere, wenn ich es konditioniere. Mit „digital detox“ im privaten Bereich trainiere ich meine Wahrnehmungsfähigkeit neu. Damit kann ich im Beruf auch wieder besser unterscheiden, was an Meldungen tatsächlich wichtig ist und was nicht. Wenn man das nicht trainiert, dann ist alles gleich wichtig, und man ist im Hamsterrad der Geschwindigkeit gefangen.

Werden wir Autos in Zukunft noch kaufen oder lieber „sharen“?

Gatterer: Es wird eine Mischung sein. Die Menschen werden weiterhin einen Mobilitätsmix einfordern. Das Auto ist also nicht per se wichtig, sondern die individuelle Mobilität ist uns wichtig, und da gehört das Auto dazu. Die Tendenz in den Großstädten geht in Richtung Carsharing. Aber es wird weiter ein Mix aus öffentlichen Verkehrsmitteln und eigenem Auto sein, um dem eigenen Mobilitätsanspruch gerecht zu werden.

Werden die User von morgen es akzeptieren, die Verantwortung des Fahrens an die Software eines Autos abzugeben?

Gatterer: Davon bin ich überzeugt. Wir gehen sicher in Richtung autonomes Fahren, aber es ist aktuell kein sehr schneller Weg. Das autonome Fahren verspricht andere Freiheiten, nämlich freie Zeit. Aber sehr wahrscheinlich wird man einen Ein-/Aus-Schalter haben, um autonomes Fahren als Option wählen zu können.

Bleibt das Smartphone auch in Zukunft unser „Lieblingsspielzeug“?

Gatterer: Das Smartphone kann sehr viel, was eine digitalisierte Brille oder eine Smartwatch im Vergleich nicht bieten könnte. Ich kann es mit der Hand gut bedienen. Bei einer Brille wird die Bedienung über die Augen schon schwieriger. Die Schnittstelle zwischen uns und der Technologie wird wohl auf längere Sicht die Hand bleiben. Insofern ist das Smartphone schon Erst durch Beobachtung versteht man, was alles passiert, und urteilt nicht vorschnell. ganz praktisch. Dass wir uns vom Smartphone lösen, ist langfristig vorstellbar, zum Beispiel dann, wenn wir unsere Daten so cloudbasiert abgelegt haben, dass wir sie völlig unabhängig von jedem Device aus abrufen können, egal wo wir sind. Das ist aber noch nicht Routine und wird noch viele Jahre in der Form nicht möglich sein, insofern bleibt der Stellenwert des Smartphones weiterhin erhalten. Es verliert aber sukzessive seinen Statusfaktor. Man merkt ja jetzt schon, dass der Hype nicht mehr so groß ist, wenn ein neues Smartphone herauskommt.

Was raten Sie einem jungen Menschen, wohin er sich beruflich orientieren soll?

Gatterer: Rein funktionalistisch gedacht, müsste die Antwort lauten: Pflegebereich, Mechatronik, IT etc. Diesen Zugang will ich aber nicht anbieten. Wesentlich ist, dass man früh versucht, herauszufinden, was einen berührt und was einen bewegt. Viel wichtiger als die Frage, was man tun soll, ist, warum man etwas tun will. Warum möchte ich das lernen, wo zieht es mich hin, was interessiert mich, was geht mir leicht von der Hand. Alles, was ich über mich selber weiß, meine Talente, meine Neigungen, wird mir in der Berufsauswahl helfen. In einer Welt, in der neue Berufe praktisch jährlich entstehen, kann es sein, dass es meinen zukünftigen Beruf noch gar nicht gibt. Also muss ich eine andere Herangehensweise wählen, nämlich: „Warum interessiert mich etwas?“ Das sollten wir unseren Kids relativ früh zutrauen, dass sie ein Gefühl für sich selber aufbauen.

Was wünschen Sie sich von der Zukunft?

Gatterer: Mit Wünschen tue ich mir etwas schwer: Ich finde die Welt, in der wir leben, extrem spannend und wünsche mir, dass es mir mein Beruf weiterhin ermöglicht, diese Welt beobachten zu können. Wenn ich mir etwas für die Gesellschaft wünschen dürfte, dann wäre das, dass man etwas weniger schnell bewertet und mehr beobachtet. Denn erst durch Beobachtung versteht man, was alles passiert, und urteilt nicht vorschnell.

Das Interview führte Beate Kreuzer für die Ausgabe 01/2017 des Audi MAGAZIN Österreich.

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