Schön und gut, dieses ganze Industrie-4.0-Ding. Aber ein Datum für den Beginn der Digitalisierung stand da noch nicht!
Das ist so eine Sache. Der Begriff „Industrie 4.0“ ist ein Marketingwort, ausgerufen, um einen Prozess zu beschreiben, einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel. Er ist kein historisch akkurater Fachbegriff – der ohnehin nur im Nachhinein vergeben werden kann und nicht schon im Voraus. Die Geschichte wird uns beurteilen, nicht andersherum.
Eine Festlegung auf ein Datum wäre ohnehin schwierig. Man könnte jetzt schauen, wann einige der oben genannten Technologien auf den Markt gekommen sind – zum Beispiel das Internet, das ja eine wichtige Grundvoraussetzung für die Industrie 4.0 ist. Die ersten Ansätze gab es bereits in den 60er Jahren, in den 90er Jahren verbreitete sich das Internet für den Privatgebrauch, aber noch 2003 lag die Zahl der Internetnutzer in Deutschland grad einmal über 50 Prozent. Den Start des System "World Wide Web" 1991 als Anfang der Industrie 4.0 zu nehmen, scheint aber vermessen. Denn damals gab es noch keine Industrieprozesse, die durch das Internet organisiert oder grundlegend gewandelt wurden.
Auch andere Internettechnologien, die heute kaum mehr wegzudenken sind, begannen überraschend früh. Etwa die Cloud. Wikipedia verrät uns, dass schon 1999 der amerikanische Cloudpionier salesforce seine Dienstleistungen anbot. Die breite Verwendung von Cloud-Technologien als Mittel von Wertschöpfung und Steigerung von Effektivität können wir aber erst in den vergangenen fünf bis sieben Jahren beobachten. Ähnlich verhält es sich mit anderen Digitaltechnologien, die es zwar schon seit Jahren und Jahrzehnten gibt, deren Bedeutung im Sinne der Digitalisierung aber erst nach und nach zu uns durchdringen.
In diesem Zusammenhang ist auch ein Blick nach Bremen als Hochtechnologieland interessant: So entstand der erste 3D-Drucker Europas in den 90ern im BIBA Bremer Institut für Produktion und Logistik. 3D-Druck gilt als eine der Schlüsseltechnologien für Industrie 4.0, weil sie individuelle, dezentrale Produktion in industrieller Qualität ermöglicht. Aber weit verbreitet war der 3D-Druck in den 90ern noch nicht - und ist es selbst heute noch nicht. Der Siegeszug dieser Technologie steht erst noch bevor.
Es ist also sehr schwer, den Beginn der "Industrie 4.0" an einem Datum festzumachen, dass historisch akkurat in dem Sinne ist, dass es Technologien wie auch gesellschaftliche Verbreitung gleichermaßen beinhaltet. Und um es nun richtig kompliziert zu machen: Im Englischen ist der Begriff der "Industrie 4.0" kaum geläufig. Hier spricht man eher von der Digitalisierung – digitization – und macht keine scharfe Abgrenzung zur dritten industriellen Revolution. Im Englischen ist sie eine einfache Fortsetzung der zunehmenden Computerisierung mit nun neuen Mitteln – eben das Informationszeitalter. Statt von einer Revolution wird viel öfter von einer Evolution gesprochen: Denn viele der heute relevanten Technologien gibt es schon lange, wie wir gerade gezeigt haben, während deren breiter Einsatz sich erst nach und nach etabliert.
Warum ist denn das Thema "Industrie 4.0" und "Digitalisierung" zur Zeit so stark in den Medien vertreten, wo es doch schon eine so lange Geschichte der Digitalisierung gibt?
Wie oben erklärt, wird das Schlagwort „Industrie 4.0“ seit seiner Vorstellung 2011 wohlwollend von Medien und Gesellschaft aufgenommen, um den starken wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen, die digitale Technologien in den vergangenen Jahren mit sich bringen, einen Namen zu geben. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „Digitalisierung“, der im Deutschen allgemeiner verstanden wird und sich nicht auf reine Industrie-Prozesse bezieht. Unter Digitalisierung wird die zunehmende Verbreitung des Internets und computerbasierter Technologien in alle Bereiche des Alltags gefasst - ob in der Landwirtschaft, in unserem Einkaufverhalten oder der Mediennutzung.
Zeichen für diesen Wandel sind vielfältig: Einerseits stehen dafür der Erfolg von Amazon, Apple oder von Google, der zur Zeit wertvollsten Firmen der Welt. Unternehmen und Technologien verändern ganze Branchen, ob im Einzelhandel, wie bei Uber im Taxigeschäft oder bei Airbnb im Gastgewerbe. Andererseits kommen neue Medien wie die Sozialen Netzwerke auf und verändern unsere Art der Kommunikation. Einhergehend verändert sich unser Konsumverhalten: So waren 2014 erstmals mehr als die Hälfte der Deutschen mit Smartphones versorgt. Mobiles Internet löst das Surfen am PC ab. Jugendliche verbringen deutlich mehr Zeit am Handy als vor dem Fernseher.