Arzt über Corona-Patienten „Das kenne ich so von keiner anderen Krankheit“
SPIEGEL: Herr Celik, wie ist die Situation auf Ihrer Station?
Cihan Celik: Wir haben alles im Griff, zumindest im Moment. Die Zahl der Covid-19-Verdachtsfälle, die wir betreuen, ist in den vergangenen zwei Wochen zwar gestiegen. Aber noch haben wir ausreichend freie Kapazitäten und können zur Not weitere Stationen für die Versorgung von Corona-Patienten umstrukturieren. Wir hatten zum Glück genug Zeit uns vorzubereiten.
SPIEGEL: Laut Angela Merkel ist der Handlungsspielraum für Lockerungen eng. Im schlimmsten Fall könnte das Gesundheitssystem schon im Juni an seine Grenzen geraten. Mit welchem Gefühl gehen Sie angesichts solcher Aussichten zur Arbeit?
Celik: Noch vor wenigen Wochen waren wir ziemlich nervös, weil wir keine praktische Erfahrung mit Covid-19 hatten. Unsere E-Mail-Postfächer quollen über mit neuen Studien, in die wir uns alle einlesen mussten. Mittlerweile verstehen wir die Krankheit besser und haben auch mehr Erfahrung im Umgang mit Patienten. Dadurch haben wir mehr Selbstvertrauen und können besser einschätzen, wann ein Patient über den Berg ist. Seitdem schlafen wir deutlich besser. Allerdings bin ich mir sicher, dass wir eine große Herausforderung vor uns haben. Wenn es zu weiteren Lockerungen kommt, werden auch die Fallzahlen steigen.
SPIEGEL: Haben Sie Angst sich anzustecken?
Celik: In unserem Krankenhaus arbeiten über 2000 Menschen, die Zahl der bestätigten Corona-Fälle kann ich an einer Hand abzählen und sehr wahrscheinlich hat sich keiner von ihnen im Krankenhaus angesteckt. Die Beschaffung von Schutzausrüstung war nicht immer leicht, aber die Situation hat sich mittlerweile entspannt. Wenn wieder ein Lkw mit Schutzausrüstung zu uns unterwegs ist, erfährt es das ganze Haus. Das gibt uns ein gutes Gefühl. Man kann sich jedoch auch außerhalb des Krankenhauses anstecken, ich selbst hatte kurz den Verdacht, erkrankt zu sein.
SPIEGEL: Was haben Sie gemacht?
Celik: Ich war bei der Arbeit, als ich Halsschmerzen bekam. Ich bin dann gleich in ein Isolierzimmer gegangen und habe mich bei der Betriebsärztin gemeldet. Dann wurde ein Abstrich gemacht, wir haben vor der Klinik extra ein Zelt dafür eingerichtet. Ich war dann in häuslicher Quarantäne, nach zwei Tagen kam die Entwarnung vom Gesundheitsamt.
SPIEGEL: Was beobachten Sie bei Ihren Corona-Patienten?
Celik: Was mir als Erstes aufgefallen ist: Viele Patienten machen zunächst einen fitten Eindruck. Wenn man sich dann aber deren Sauerstoffwerte anguckt, erschrickt man, weil sie so niedrig sind. Das kenne ich so von keiner anderen Krankheit. Andere Patienten hätten wir bei solchen Werten schon intubiert, also künstlich beatmet. Einige sind deshalb überrascht, wenn wir sie auf die Intensivstation verlegen, obwohl es ihnen noch gar nicht so schlecht geht. Aber das kann sich bei Covid-19 schnell ändern. Es gibt also eine große Abweichung zwischen dem klinischen Bild und den objektiv messbaren Parametern. Das macht ganz grob gesagt die Covid-19 Erkrankung im klinischen Alltag aus.
SPIEGEL: Viele glauben, Covid-19 sei vor allem für Ältere ein Problem. Sind Ihre Patienten alle über 80 Jahre alt?
Celik: Gerade am Anfang der Epidemie, als viele aus dem Skiurlaub zurückkamen, hatten wir erstaunlich viele junge Patienten - und mit jung meine ich 30 Jahre und aufwärts -, bei denen das Coronavirus eine Lungenentzündung verursacht hatte. In dem Alter sind Lungenentzündungen eher selten, so viele auf einmal habe ich noch nie gesehen, und ich arbeite auf einer Lungenstation. Wenn das Virus in die Lunge gelangt, verläuft die Krankheit schwer. Viele Patienten - auch junge - erzählen mir, dass sie sich noch nie so krank gefühlt hätten.
SPIEGEL: Wie gehen Patienten mit der Diagnose um?
Celik: Bei einigen spüre ich schon Angst. Die Familie einer Patientin hat mich beispielsweise gebeten, der Frau zu verheimlichen, dass sie an Covid-19 erkrankt ist. Doch irgendwie müssen wir ihr ja erklären, warum sie in Quarantäne muss.
SPIEGEL: Kann Ihre Station auf Dauer so viele Betten für Corona-Patienten freihalten?
Celik: Wir planen bisher etwa ein bis zwei Wochen im Voraus. Für langfristige Planungen ist das Infektionsgeschehen zu dynamisch. Irgendwann drängen aber auch andere Fragen. Im Moment sichern wir die Notfallversorgung, planbare Eingriffe müssen wir verschieben. Einige Patienten warten beispielsweise auf ihre Magenspiegelung, andere haben Beschwerden, die ein Eingriff lindern könnte, der aber nicht unbedingt notwendig ist.
SPIEGEL: Glauben Sie, Deutschland hat zu zögerlich auf die Epidemie reagiert?
Celik: Ich kann mir vorstellen, wie schwer es sein muss, in so einer Situation Entscheidungen zu treffen. Es ist leicht, sich im Nachhinein hinzustellen und zu sagen, wer wann was hätte besser machen können. Aber ehrlich? Ich hatte auch keine bessere Idee. Im Moment haben wir die Lage gut im Griff. Was wir auf jeden Fall brauchen, ist das verbindliche Register für freie Intensivbetten. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie das Coronavirus überfällige Innovationen im Gesundheitsbetrieb beschleunigen kann.